«In der Corona-Krise glauben wir an die Wissenschaft»
Buchautor Lars Jaeger sieht die Corona-Krise als Chance für die Wissenschaft. Im Interview mit Naratek spricht er über die aktuelle Entwicklung, die Parallelen zu früheren Krankheitsausbrüchen – und die Herausforderungen für die Zukunft.
Lars Jaeger hat Physik, Mathematik, Philosophie und Geschichte studiert und mehrere Jahre in der Quantenphysik sowie in der Chaostheorie geforscht. Er lebt in der Nähe von Zürich. Der umtriebige Querdenker hat zwei Unternehmen aufgebaut, die institutionelle Finanzanleger beraten, und bloggt regelmässig zum Thema Wissenschaft und Zeitgeschehen. Zudem unterrichtet er unter anderem an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen. Die Begeisterung für die Naturwissenschaften und die Philosophie hat ihn nie losgelassen. Sein Denken und Schreiben kreist immer wieder um die Einflüsse der Naturwissenschaften auf unser Denken und Leben. Im September 2019 erschien sein neuestes Buch «Mehr Zukunft wagen!» im Gütersloher Verlagshaus.
Lars Jaeger, Sie haben unter anderem die Chaostheorie studiert. Was folgern Sie daraus in der aktuellen Zeit?
(lacht) Die Chaostheorie war tatsächlich Thema meiner Doktorarbeit. Aber aktuell haben wir kein Chaos. Wir sehen eine eigentlich sehr geordnete Entwicklung, die sich durch exponentielles Wachstum auszeichnet – die Ansteckung durch das neue Corona-Virus von einer Person auf die nächste, die sich ohne Massnahmen so lange fortsetzt, bis eine Herdenimmunität erreicht ist.
Also eher ein Fall für die Mathematik?
Ja. Die Mathematik hinter der aktuellen Pandemie ist verhältnismässig einfach und keineswegs unbekannt.
In Ihrem aktuellen Essay zur Corona-Krise haben Sie Vergleiche zum Ausbruch der Pest im Mittelalter gezogen – mit dem Verweis, dass viele Abläufe durchaus ähnlich sind.
Einen bedeutenden Unterschied erkennen wir natürlich schon zum Krisengeschehen des Mittelalters und der frühen Neuzeit: Damals sahen die Menschen das Gebet und ihren Glauben an Gott als einzige Heilsbringer. Zu Ersterem versammelten sie sich oft in grossen Gruppen, was die Verbreitung der Krankheitserreger noch verstärkte. Heute glauben wir an die Wissenschaft, die uns einen Impfstoff liefern soll. Aber die Reaktionen der Menschen damals waren in der Tat erstaunlich ähnlich zu denen von heute. Es herrschten grosse Ängste, Hamsterkäufe fanden statt, Regierungen schotteten sich ab. Dabei müsste man meinen, dass wir die Dynamik einer solchen Pandemie heute besser verstehen sollten als im finsteren Mittelalter.
Zu Ersterem versammelten sie sich oft in grossen Gruppen, was die Verbreitung der Krankheitserreger noch verstärkte. Heute glauben wir an die Wissenschaft, die uns einen Impfstoff liefern soll.
Sie sagen, dass die Hoffnungen in der Corona-Krise nun auf der Wissenschaft ruhen.
Viele Menschen sehen in der Wissenschaft einen Rettungsanker. Die Hoffnung der Menschen liegt in den Fähigkeiten der Wissenschaftler, so schnell wie möglich einen Impfstoff gegen das Virus zu entwickeln. Experten gehen davon aus, dass ein solcher bereits in einem Jahr zur Verfügung stehen wird. Unterdessen verstehen Wissenschaftler das neue Virus schon recht gut. Bereits im Januar wurde seine DNA sequenziert, aktuell wird mit Hochdruck an der Entwicklung eines Impfstoffs gearbeitet. Gleichzeitig sehen wir heute viel Misstrauen und Skepsis gegenüber der Wissenschaft. Man muss sich nur mal den US-Präsidenten anschauen, der alles ablehnt, was ihm nicht in den Kram passt. Er hofft zwar, dass ihm die Wissenschaft seinen Hintern retten kann, gleichzeitig ignoriert er alles, was ihm Fachleute in der aktuellen Situation raten.
Befindet sich die Wissenschaft in einer Art Grabenkampf gegen immer mehr Menschen, die selbst offensichtlichste Wahrheiten ablehnen?
Das sehe ich tatsächlich so. Ich stelle seit einiger Zeit eine wachsende Wissenschaftsskepsis fest. Zum einen sind das Politiker oder andere Machthaber, die aus ideologischen Gründen gewisse wissenschaftliche Erkenntnisse ablehnen. Es ist erstaunlich, wie Wissenschaftsskeptiker à la Donald Trump oder auch Michael Pence, Jair Bolsonaro, Viktor Orban und auch viele Zeitgenossen, die sich sonst wissenschaftsskeptisch exzessiv in den Kommentarfunktionen von Blogs bewegen, sich nun an die Wissenschaftler wenden und sie drängen, die Welt doch so schnell wie möglich von der Geisel des Corona-Virus zu befreien. Donald Trump forderte die Wissenschaftler auf, einen Impfstoff noch vor der Präsidentschaftswahl im November fertig zu haben, und ist auf einmal sogar bereit, viel Geld für die Wissenschaft auszugeben. Nun sollen die verhassten Wissenschaftler also seine Präsidentschaft retten. Von Verdammern wissenschaftlicher Erkenntnisse wie der Evolutionstheorie, Epidemiegefahren und zuweilen auch der Relativitätstheorie zu Apologeten der wissenschaftlichen Methode und ihrer rationalen und empirischen Suche nach Lösungen scheint das Virus eine sehr positive Ansteckungswirkung erzielt zu haben.
Diese Skepsis kennt man auch aus der Diskussion um den Klimawandel.
Ganz genau, das ist in der Tat das beste Beispiel dafür.
Spielt die Corona-Krise den Wissenschaftlern in die Karten?
Ich weiss nicht, ob das automatisch geschieht. In einer Situation, die Urängste heraufbeschwört, werden gern Schuldige gesucht. Das sieht man zum Beispiel bei Donald Trump: Schuld sind die Chinesen, die Europäer, was weiss ich. Es wäre schön, wenn die Gesellschaft durch die aktuelle Situation dazu angehalten würde, positiver bezüglich wissenschaftlicher Erkenntnisse zu sein. Allerdings stelle ich eher das Gegenteil fest. Viele Menschen neigen in der Krise zu einem völlig irrationalen Verhalten und decken sich mit übermässig viel Klopapier ein.
Andererseits haben wir derzeit eine Handvoll Virologen, wie etwa Dr. Christian Droste in Deutschland, die fast schon Star-Status erreicht haben. Sehen Sie das positiv?
Man sehnt sich natürlich nach Rettern. Und solche Leute haben eine enorme Glaubwürdigkeit, sie kennen sich aus und können Hoffnung vermitteln. So wird man von Medien sehr schnell zu einem Helden hochstilisiert. Viele Leute wollen die Botschaft auch hören, dass die aktuelle Situation gelöst werden kann, wenn man bestimmte Massnahmen ergreift.
Muss sich die Wissenschaft bis zu einem gewissen Grad neu erfinden, um ernst genommen zu werden?
Ich denke eher, dass die Wissenschaft aktiver werden muss gegenüber ideologisch verhärteten Gegnern und Positionen.
Das glaube ich nicht. Natürlich ist Wissenschaft heute etwas anderes als vor hundert Jahren. Sie ist ein Massenprodukt, das finanziert sein will. Deshalb steht sie sehr schnell unter einem gewissen Bestätigungsdruck, um die Gelder zu rechtfertigen. Aber ich glaube, das kann sie erfüllen. Ich denke eher, dass die Wissenschaft aktiver werden muss gegenüber ideologisch verhärteten Gegnern und Positionen. Sie hat heute auch die Aufgabe, ihre Erkenntnisse proaktiver darzustellen. Aber Wissenschaftler sind oft nicht unbedingt die besten Kommunikatoren. Und auch nicht immer gute Psychologen.
Sie sind auch Anlage- und Finanzexperte. Was halten Sie von Biotech-Aktien?
Natürlich steckt da ein riesiges Potenzial drin. Wenn man in die DNA eingreifen oder sie manipulieren kann, ist das ein Feld mit enormen Möglichkeiten. Aber man muss als Anleger aufpassen: Eine gute Idee ist nicht immer eine gute Aktie respektive: eine gute Firma. (lacht) Man muss ein gutes Verständnis haben sowohl für die Technologie, die eine solche Firma anbietet, wie auch für die Bewertungsmechanismen solcher Aktien. Ich würde solchen Titeln auf keinen Fall hinterherlaufen.
Mittlerweile gibt es Unternehmen wie die kanadische Firma Bluedot, die mithilfe von KI Pandemien in Zukunft voraussagen können will ...
Nun ja, Pandemien haben ja durchaus einen vorhersehbaren Verlauf. Die Angst vor einem Ausbruch etwa von Ebola beschäftigt Wissenschaftler schon seit geraumer Zeit, und die Frage ist immer: Wann wird eine Epidemie zur Pandemie? Das ist sicher von Aspekten abhängig, die sich nicht so einfach voraussagen lassen. Man konnte beim Corona-Virus ja nicht wissen, dass der Ausbruch ausgerechnet auf das chinesische Neujahr fallen würde, bei dem viele Reisende das Virus in die ganze Welt hinaustragen. Beispielsweise in die italienischen Skigebiete, von wo aus es sich in ganz Europa weiterverbreitete. Die Chinesen hatten das Virus ja eigentlich ganz gut im Griff.
Welche Prognose stellen Sie für die Corona-Krise?
Ich glaube, in Europa haben wir gute Chancen, die Situation in den Griff zu kriegen. Wir haben die entsprechenden Massnahmen getroffen, in einzelnen Fällen vielleicht eine oder zwei Wochen zu spät. Italien und Spanien werden den Peak bald erreicht haben, dann werden wir wohl auch dort sinkende Fallzahlen sehen. Mehr Sorge habe ich für die USA. Ich glaube nicht, dass die Massnahmen dort reichen; und mit einem Präsidenten an der Spitze, der verrückt ist, wird es auch nicht einfacher. England hat auch spät reagiert, nicht zuletzt wegen eines uneinsichtigen Regierungschefs. Aber am meisten Zweifel habe ich bei den USA.
Am Ende des Tages werden wir auf einen Impfstoff warten müssen. Die Hoffnungen ruhen also auf der Wissenschaft.
Genau. Sonst werden wir mit Wellen leben müssen, wie das vor hundert Jahren bei der Spanischen Grippe der Fall war. Die erste Welle damals war im Vergleich gar nicht mal so schlimm. Aber bei der zweiten wurde es richtig dramatisch. Ich gehe jedoch davon aus, dass wir in einem Jahr den Impfstoff haben werden.
KI warnte als Erstes vor dem Wuhan-Virus
Der Algorithmus der kanadischen Firma Bluedot warnte schon am 31. Dezember 2019 vor einem Virus-Ausbruch im chinesischen Wuhan. Damit war die künstliche Intelligenz der WHO um ganze neun Tage voraus. Die Firma entwickelt ein Tool für Seuchenfrüherkennung und setzt dabei eine Kombination aus künstlicher und menschlicher Intelligenz ein. Der Bluedot-Algorithmus durchsucht das Internet autonom. Die KI interessiert sich für Nachrichten, Datenbanken und Meldungen zu Tier- und Pflanzenkrankheiten, offizielle Gesundheitswarnungen, aber auch Foren und Blogs.
Per Zugriff auf die Ticket-Daten von weltweiten Fluglinien kann das Bluedot-Tool sogar den voraussichtlichen Verlauf einer Pandemie vorhersagen. So hatte Bluedot korrekt prognostiziert, dass sich das Corona-Virus zuerst in Richtung Bangkok, Seoul und Tokio ausbreiten wird. Dabei verlässt sich Bluedot nicht allein auf die KI. Vielmehr evaluieren Spezialisten die Prognosen des Algorithmus unter wissenschaftlichen Aspekten und geben Warnungen erst raus, wenn sie plausibel erscheinen.
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Illustration: Ryan Sanchez