Saubermacher mit künstlichem Grips
Künstliche Intelligenz kann Roboter – die bisher zumeist noch stationär in der Industrie eingesetzt werden – mobil und selbständig machen. Die grössten Nachfrager für diese Technologie sind Hersteller von kommerziellen Reinigungsmaschinen und ihre Kunden: Zehntausende von Putzrobotern sind schon im Einsatz – und die Covid-Pandemie hat ihre Dienste noch begehrter gemacht.
Putzen gilt nicht gerade als intellektuell stimulierend. Aber wenn die gegenwärtige Covid-19-Pandemie eines bewirkt hat, dann ist das ein neuer Respekt für diese scheinbar simple, oft monotone, aber im wörtlichen Sinn lebenswichtige Reinigungsarbeit. Um dem Personal die Hände fürs Reinigen und Desinfizieren der delikateren und komplizierteren Oberflächen freizumachen, werden ihnen zunehmend Roboter für die grobere «Drecksarbeit» zur Seite gestellt. Und denen hilft dabei eine ordentliche Portion Intelligenz – genauer gesagt: Künstliche Intelligenz.
KI langweilt sich bei solch einer monotonen Tätigkeit wie Bodenputzen nicht so schnell wie das menschliche Hirn. Das dachte sich jedenfalls der russisch-amerikanische Neurowissenschaftler Dr. Eugene Izhikevich, Professor am Neurosciences Institute in San Diego und Experte für Computational Neuroscience (ein Fachgebiet, das so neu ist, dass es noch keinen richtigen deutschen Namen hat): Vor elf Jahren kehrte er der akademischen Forschung den Rücken und gründete 2009 in San Diego die Firma Brain Corp, um Betriebssysteme für autonome mobile Roboter (AMR) zu entwickeln. «Sein Ziel für Brain Corp war es, das Microsoft für Robotersysteme zu werden», erklärte mir Michel Spruijt, Brain-Corp.-Vizepräsident für Europa, in einem Zoom-Gespräch – ganz ohne jeden Anflug von falscher Bescheidenheit.
Sein Ziel für Brain Corp war es, das Microsoft für Robotersysteme zu werden
Dass sich Brain Corp auf autonome Reinigungsmaschinen konzentrierte, war kein Zufall: Einerseits hatten sich selbständige Teppichkehrmaschinchen wie der Roomba von iRobot gerade als zuverlässige Haushaltsgehilfen bewährt und damit autonome Reinigungsgeräte auf breiter Ebene populär gemacht. Und andererseits zeigten sowohl die Hersteller von kommerziellen Reinigungsmaschinen – allen voran Firmen wie Tennant, Nilfisk oder ICE Robotics – als auch ihre Kunden, vor allem Einzelhandelsketten wie Walmart und Kroger in den USA, Interesse an der Entwicklung intelligenter Putzroboter: Eine Industriestudie errechnete bis zum Jahr 2030 einen jährlichen Bedarf von fast 300'000 AMR. Und die aktuelle Pandemie mit ihren erhöhten Anfoderungen an Hygiene hat diesem Geschäft zusätzlichen Aufwind gegeben.
«Wir suchten nach einer Plattform für unser Roboter-Betriebssystem BrainOS, und wir wollten uns dabei nicht verzetteln, sondern auf eine Anwendung konzentrieren. Reinigungsroboter waren da am aussichtsreichsten», erklärt Spruijt. Sie benutzen im Prinzip die gleichen Sensoren wie Selbstfahrautos: 3D-Kameras und LIDAR-Sensoren. Reinigungsroboter werden jedoch in einem plan- und kontrollierbaren Umfeld eingesetzt, mit dem sich Künstliche Intelligenz schnell vertraut machen kann, und sie bewegen sich bestenfalls mit Schrittgeschwindigkeit, was das Unfallrisiko minimiert.
Die Natur des Gehirns nachgeahmt
Bevor Izikhevich begann, künstliche Intelligenz in Reinigungsmaschinen einzubauen, hatte er sich in Fachkreisen als Spezialist für so genannte gepulste neuronale Netze (Spiking Neuronal Networks, oder SNN) einen Namen gemacht. Die Idee hinter dieser Netzwerkarchitektur ist, durch Variation von elektrischen Impulsen die biologische Funktion von Neuronen in echten Gehirnen nachzuahmen – im Gegensatz zu so genannten Convolutional Neural Networks (CNN), deren Prinzip eher mit einer vielschichtigen, aber auf jeder Ebene vergleichsweise simplen Auflösungsmatrix vergleichbar ist. Diese biologisch inspirierten SNN-«Nervensysteme» sind rechnerisch erheblich komplizierter als CNN und daher in der KI-Forschung weniger populär. Im Jahr 2005 konnte Izikhevich, der einen Abschluss in Biologie an der Moskauer Lomonossow-Universität und einen Doktor in Mathematik von der Michigan State University hat, das bis dahin komplexeste neuronale Modell der Welt simulieren: Mit 100 Milliarden künstlichen Neuronen und einer Billiarde Synapsen kam es dem menschlichen Gehirn nahe.
Die Idee zur Gründung von Brain Corp kam Izikhevich gemeinsam mit seinem Kollegen Dr. Allen Gruber, damals Professor für Neurowissenschaften an der University of California in San Diego. Ihre Geschäftsidee war, ein Betriebssystem für Roboter zu entwickeln, das nicht – wie weitgehend üblich – nur für ein Modell oder für einen Hersteller konzipiert war. Und anstatt selbst Roboter zu bauen, kooperierte Brain Corp praktisch vom Start weg mit den Hardware-Herstellern: Ihre ersten fünf Jahre verbrachte die Firma als Inkubator unter dem Dach des Chip- und Mobilfunkherstellers Qualcomm; seit 2014 operiert sie als eigenständiges Unternehmen, mit Izikhevich als CEO und Gruber im Verwaltungsrat.
Der erste kommerzielle Reinigungsroboter mit einem BrainOS-Betriebssystem wurde 2016 vorgestellt; er war eine Kooperation mit dem Kehrmaschinenhersteller Intelligent Cleaning Equipment (kurz: ICE) und trug den Kosenamen EMMA, kurz für Enabling Mobile Machine Automation. Aus dieser Kooperation entstand ICE Robotics, das seit 2019 als eigenständige Marke unter dem Dach des japanischen Robotik-Konzerns SoftBank Robotics geführt wird. Der US-Reinigungsmaschinenkonzern Tennant zog 2018 mit seinem ersten BrainOS-Putzroboter nach; Konkurrent Nilfisk stellte sein erstes Modell 2020 vor. Der deutsche Reinigungsmaschinenkonzern Kärcher wird zwar von Brain Corp als Partner präsentiert, bietet aber bisher noch kein Modell an.
Anfang 2020 waren weltweit über 10'000 autonome BrainOS-Bodenreiniger im Einsatz; dann kam Covid19, und die Nachfrage explodierte: Bis zur Jahresmitte war die Flottenstärke dieser Putzroboter auf mehr als 14'000 angestiegen, erklärte Josh Baylin, Chefstratege bei Brain Corp, in einem Podcast den Covid-Effekt auf das Firmengeschäft. Und die Auslastung jeder einzelnen Maschine liege um 12 Prozent über dem Vorjahreswert: «Die Pandemie hat den Einzelhändlern gezeigt, wie wertvoll diese Roboter im Tagesgeschäft sein können: Sauberkeit ist betriebsnotwendig geworden.» Je beobachtbarer geputzt wird, desto besser.
In zehn Minuten programmiert
Was all diesen Robotern gemeinsam ist: Sie unterscheiden sich auf den ersten Blick kaum von einer normalen Aufsitz-Reinigungsmaschine, mit einem Sitz für einen Fahrer und einem Lenkrad. Nur ein aufmerksamer Beobachter erkennt die optischen Sensoren; der auffälligste Hinweis darauf, dass es sich um Roboter handelt, ist das BrainOS-Logo an der Vorderseite – und natürlich die Tatsache, dass diese Maschinen selbständig durch die Gänge der Supermärkte, Einkaufszentren und auch Flughäfen rollen, wo sie überwiegend zum Einsatz kommen – ganz ohne menschliches Zutun. Besser gesagt: fast ohne menschliches Zutun.
Das Konzept der BrainOS-Software ist «teach and repeat», wie mir Michel Spruijt erklärte: «Um eine Route zu programmieren, muss ein Mensch sie einmal fahren – es dauert keine zehn Minuten, und die Maschine kennt ihre Strecke und kann sie jederzeit wiederholen.» Anders als fahrerlose Transportfahrzeuge, die in der Industrie und in Lagerverwaltungssystemen üblich sind, brauchen die BrainOS-Roboter keine speziellen Spurmarkierungen, um ihren Weg zu finden. Und dank ihrer Künstlichen Intelligenz können sie sich nicht nur an eine nahezu unbegrenzte Zahl verschiedener Strecken durch ihr Einsatzgebiet erinnern: Sie können auch mit unerwarteten Hindernissen umgehen – vor allem mit beweglichen Hindernissen wie Kunden und Einkaufswagen. Wenn die Sensoren ein solches Hindernis beobachten, schätzt die Software ab, wie und wohin es sich bewegen wird. Der Roboter kann dann entweder abwarten, bis der Weg frei ist, oder das Hindernis vorsichtig umfahren.
Es dauert keine zehn Minuten, und die Maschine kennt ihre Strecke und kann sie jederzeit wiederholen
Und wenn es keine Möglichkeit gibt, das Hindernis zu vermeiden? Dann ruft der Roboter einen Mitarbeiter um Hilfe, indem er über die Mobilfunk-Verbindung eine Nachricht an eine Smartphone-App schickt. Dieser Fall, so erklärte Spruijt, trete im Schnitt einmal pro Stunde auf uns sei in aller Regel sehr schnell zu beheben. Das Ziel sei ja nicht, Menschen komplett zu ersetzen, sondern ihre Arbeitskraft für wichtigere Aufgaben freizumachen – zum Beispiel das Reinigen von Oberflächen, an die diese Bodenreinigungsgeräte nicht herankommen. Und gerade darauf kommt es in so einer Pandemie an: «Zwei von drei Supermarktkunden fürchten sich vor einer Ansteckung, und da ist es besonders wichtig, dass sie sehen können, wie geputzt wird.»
Dazu tragen die Putzroboter gleich in doppelter Weise bei: Erstens können sie sich gewissermassen «unter die Leute mischen» und ihren Job auch tagsüber – und damit sehr sichtbar – erledigen, anstatt nachts den leeren Markt oder den leeren Flughafen zu schrubben. Und zweitens entlasten sie das in der aktuellen Situation sowieso schon extrem geforderte Personal, das nun praktisch pausenlos alle Oberflächen reinigen muss, mit denen Menschen in Kontakt kommen: Allein in den ersten neun Monaten der Pandemie addierte sich Zeit, die Mitarbeiter nicht mehr mit dem monotonen, aber zeitraubenden Bodenschrubben verbringen müssen und damit für andere und kompliziertere Reinigungsaufgaben verfügbar haben, auf nahezu drei Millionen Arbeitsstunden. Spruijt erklärt das so: «Wir machen die Drecksarbeit.»
Aber nicht nur die. Das Brain-OS-Betriebssystem kann mehr als nur Putzrouten abfahren: Brain Corp arbeitet bereits an Robotern, die erkennen können, welche Regale aufgefüllt werden müssen. Kameras scannen dafür jeden Regalmeter im Supermarkt und senden die Bilder zur Auswertung via Mobilfunk an die Datencloud, die auch jetzt schon jedes Vorkommnis und jede neu programmierte Route der Roboter speichert. Eine andere Roboter-Plattform nutzt die BrainOS-Software, um Waren aus dem Lager in den Markt zu transportieren, und wird in naher Zukunft auch vorbestellte und vorbezahlte Warenkörbe an Kunden ausliefern können, die vor dem Supermarkt warten. Dies reduziert persönliche Kontakte und damit das Infektionsrisiko.
Putzroboter mit Hirn im Einsatz
Kompatibel mit Datenschutzvorschriften
Und obwohl Spruijt es nicht direkt ausspricht, haben die BrainOS-Maschinen noch einen weiteren Nutzen: Sie speichern die Videobilder, mit denen die Roboter ihre Umgebung beobachten – bis zu 100 Gigabyte an Video und weitere 50 Gigabyte an Daten kann jeder Roboter speichern und ist damit auch eine mobile Überwachungskamera. Wenn der Speicher voll ist, wird er überschrieben, aber wichtige Daten können in der Datencloud gespeichert werden – wie bei Überwachungskameras. «Wir entsprechen in vollem Umfang mit der Datenschutz-Grundverordnung», versichert Spruijt. Wenn Daten gespeichert würden, dann ausschliesslich zur Verbesserung des Systems. Im Schnitt alle sechs bis acht Wochen werde das Betriebssystem über die 4G-Datenverbindung aktualisiert und aufgerüstet.
Diesen Service gibt es natürlich nicht umsonst: BrainOS wird zwar beim Kauf des Roboters mitgeliefert, aber der Kunde muss die Software abonnieren. Die erste Lizenz ist für drei Jahre gut, danach müssen die Kunden für jeweils zwei oder drei Jahre verlängern, wenn sie die Maschinen weiter benutzen wollen. Doch was wäre, wenn ein Kunde sich weigert, weiterhin für die Software zu bezahlen? Könnte so ein Roboterhirn «gehackt» werden und mit einem der vielen generischen Robotik-Betriebssysteme weiterlaufen? «Unsere Maschinen sind nicht mit anderen Betriebssystemen kompatibel», erklärt Spruijt und bringt damit die eingangs bemühte Microsoft-Analogie wieder in Erinnerung. Ein cleverer Hacker könnte vielleicht einiges daran drehen – aber mit der Folge, dass die Maschinen dann nicht mehr so laufen wie gewohnt. «Ohne das Software-Abo hat der Roboter nichts weiter als eine gewöhnliche, manuelle Reinigungsmaschine. Das Hirn liefern wir.»
Text: Jürgen Schönstein
Illustration: Justin Wood