Algorithmen erobern die Bühne

Er bringt künstliche Intelligenz auf die Theaterbühne: Ilja Mirsky. Dabei darf die Technik auch versagen, findet der junge Digital-Künstler, der analoges Theater verehrt.

Portrait of Ilja Mirsky

Drama im 21. Jahrhundert: Gunter fühlt sich zur künstlichen Superwoman Jann hingezogen. Die Roboterin ist attraktiv, witzig und versteht ihn besser als er sich selbst. Das Problem: Gunter ist verheiratet und seine Frau rasend eifersüchtig. «I am a man after all!», klagt der zerrissene Held in der Online-Sitzung mit dem Therapeuten Dr. Eliza. Dieser erwidert gleichmütig: «Do you believe it’s normal to be a man?» Lacher aus dem Publikum, ein Riss in der sonst stereotypen Story. Urheber der Komik: ein Chatbot.

«Im Theater gibt es viele Produktionen über künstliche Intelligenz», sagt Ilja Mirsky. «Um das Verhältnis Mensch/Maschine zu thematisieren, sind Inszenierungen mit KI aber eigentlich viel eindrücklicher.» Deshalb bringt der Immersive Media Artist und Dramaturg KI-basierte Technologien auf die Theaterbühne. Im Improvisations-Science-Fiction-Stück «Almost Human» managt der 27-Jährige zwei Chatbots – einer in der Rolle des Psychiaters, der andere als Roboterfrau, die den Helden auf Abwege führt.

Ilja Mirsky dialog with chatbot

Bühne und Forschung

«Die Dialoge mit den Chatbots sind oft interessant und leben von unfreiwilliger Situationskomik», sagt Mirsky. Damit die Kommunikation klappt und natürlich wirkt, ist hinter den Kulissen viel technische Steuerung nötig. Einerseits speist Mirsky mithilfe von Speech-to-Text-Software die Antworten der Schauspielerinnen und Schauspieler in die Chatbots ein. Andererseits spricht der Süddeutsche den Darstellerinnen und Darstellern die Antworten der Bots via Funk ins Ohr. «Das alles muss sehr schnell gehen, damit keine grossen Verzögerungen entstehen.»

Weitere Tücke des Chatbot-Formats: «Häufig sind die Dialoge so perfekt, dass sie gescriptet wirken. Die Zuschauerinnen und Zuschauer zweifeln, ob die Dialoge wirklich in Echtzeit generiert werden.» Mirsky untersucht deshalb intensiv, ob und wie Theater mit KI überhaupt funktionieren kann. Dies tut er auf der Bühne, aber auch in seiner Doktorarbeit. Mirsky promoviert an der Universität Tübingen und an der Zürcher Hochschule der Künste zu digitaler Dramaturgie.

Leider wird in digitalen Produktionen oft vergessen, was dieses jahrtausendealte Medium gut kann: Geschichten erzählen.

Von Technik um der Technik willen hält der junge Deutsche allerdings nichts. «Ich bin ein grosser Fan des analogen Theaters», betont er. «Leider wird in digitalen Produktionen oft vergessen, was dieses jahrtausendealte Medium gut kann: Geschichten erzählen.» Mit vielen digitalen Projekten tut sich Mirsky deshalb schwer: «Die dramaturgische Arbeit kommt häufig zu kurz und es bleibt bei Experimenten, die sich nicht mehr verorten lassen.»

Digitalisierung im Theater

Noch steckt digitales Theater in den Kinderschuhen. Immer mehr Bühnen experimentieren allerdings mit digitalen Technologien. Dabei geht es um viel mehr, als Theater im Internet zu streamen. «Die Technologien sind ein weiteres Mittel, neue Welten und Narrative zu erschaffen», sagt Immersive Media Artist und Dramaturg Ilja Mirsky. Dabei entstehen auch vollkommen neue Theaterformate. «Es gibt zum Beispiel VR-Produktionen, in denen die Zuschauerinnen und Zuschauer via VR-Brille in eine computergesteuerte 3D-Wirklichkeit eintauchen», sagt Mirsky. Er selber wirkt eher in Projekten mit, die analoges Theater mit digitalen Technologien kombinieren, etwa per Videoscreen im Bühnenhintergrund.

Die dunkle Seite von KI

In seiner Arbeit will Mirsky das Beste aus der analogen und der digitalen Welt vereinen. Dies liegt auf der Hand – der gebürtige Regensburger ist an beiden Orten zuhause: Nach seinem Bachelor in Kognitionswissenschaften in Tübingen, wo er auch programmieren lernte, studierte er Performance Studies in Hamburg. Von den Kognitionswissenschaften hat Mirsky allerdings viel mehr mitgenommen als bloss technisches Know-how: Fragen wie:

Was macht uns zum Menschen?
Wie nehmen wir wahr?
Was ist ein Körper?

Mirsky will auch die dunkle Seite von KI aufs Tapet bringen. Zum Beispiel in der Produktion «Mythen der Zweckmässigkeit» am Klabauter Theater in Hamburg. Die Mitglieder des Ensembles sind Personen mit Beeinträchtigungen. «Hier habe ich eine KI verwendet, die Menschen via Body Tracking als Menschen erkennt. Aber eben nicht alle – gewisse Darstellerinnen und Darsteller hat die KI nicht erkannt.» Damit zeigt der Künstler einfach verständlich das Diskriminierungspotenzial von Algorithmen auf. «Diese werden vor allem mit Daten trainiert, die der Norm entsprechen, und treffen deshalb unfaire Entscheidungen.»

Screenshot Augmented Reality

Das Stichwort: Augmented Reality

In erster Linie nutzt Mirsky KI allerdings, um die Realität zu erweitern. Oder anders ausgedrückt: Er schafft Augmented Reality. Im Klabauter Theater verwendete er zum Beispiel einen Algorithmus, der die Emotionen auf dem Gesicht einer sehr stark beeinträchtigten Darstellerin im Rollstuhl verstärkte. «Damit konnten wir die Schauspielerin nochmals ganz anders darstellen.» Oder er erzeugte 3-D-Scans der Mitwirkenden und liess sie neben der Bühne auf dem Videoscreen auftreten. «Solche 3-D-Scans gehen heute super einfach mit allen Geräten, die die Lasersensor-Technologie Lidar zur Umfelderfassung unterstützen, zum Beispiel mit einem Apple Ipad Pro.»

"Body Tracking" von Ilja Mirsky

Digitale Technologien müssen aber gar nicht unbedingt live auf die Bühne. Oft verwendet Mirsky sie nur als Hilfe im Produktionsprozess. «Um herauszufinden, wie eine blaue statt einer grünen Kulisse wirkt, braucht es in einer Virtual-Reality-Umgebung nur ein paar Klicks – in der Realität ist dies ein Aufwand von mehreren Stunden», erklärt Mirsky. Für die Entscheidung, ob die Technologie in einer Inszenierung auf die Bühne kommt oder dahinter bleibt, empfiehlt Mirsky vor allem eines: «Die Beteiligten sollen sich bewusst machen, warum sie für oder gegen Live-Technik sind.» Angst vor der Technik findet er ein schlechtes Gegenargument. «Technik auf der Bühne darf auch versagen, diese Grenzen sind sogar interessant. Man muss das dem Publikum nur offenlegen.»

Dumm und naiv

Beim Chatbot-Stück «Almost Human» spielt der Live-Einsatz von Technologie die Hauptrolle. «Wir wollen zeigen: Maschinen sind Interaktionspartner, nicht nur Instrumente», erklärt Mirsky. Für die Arbeit hat sich das Team zum einen für den Bot Eliza entschieden. Dieser wurde 1966 programmiert und ist der älteste Chatbot der Welt. «Entsprechend dumm und naiv ist er», so Mirsky. «Dafür antwortet er sehr regelhaft und eignet sich ideal für die Rolle des Therapeuten.»

Diesen Chatbot haben wir mit einem speziellen Datensatz trainiert, damit der Bot emotional und leidenschaftlich agiert

Zum anderen kommt Jann zum Einsatz, der auf dem Spotify-Algorithmus basiert und über ein neuronales Netz verfügt. «Diesen Chatbot haben wir mit einem speziellen Datensatz trainiert, damit der Bot emotional und leidenschaftlich agiert.» Perfekt für die Rolle der Roboter-Verführerin. Jann ist übrigens ein Next-Neighbour Algorithmus. Will heissen: Er findet seine Antworten in Datensätzen, die am nächsten bei dem liegen, was sein Gegenüber gesagt hat.

Ein Ort der Verständigung

Next Neighbour – das passt ganz gut. «Theater ist ein Ort der Verständigung», sagt Mirsky. Wie verbindend Theater wirkt, hat er zum Beispiel in Tel Aviv erlebt, als er bei der hebräischen Erstaufführung von Borcherts «Draussen vor der Tür» hospitierte. «Die Darstellerinnen und Darsteller performten einen Text, der von einem deutschen Soldaten handelt. Das hat mich sehr berührt – womöglich wurden ihre Grosseltern von einem deutschen Soldaten getötet.»

Ob analog oder mit digitalen Elementen: Für Mirsky ist Theater ein Ort der Begegnung von Menschen mit unterschiedlichsten Perspektiven und Biografien. Mirskys eigene Herkunft ist bunt: Ein Teil seiner Familie kommt aus Israel, seine Eltern stammen aus Moskau. Letzteres lässt den jungen Immersive Media Artist kurz innehalten. «Während wir hier sprechen, sitzen meine ukrainischen Freunde im Bombenhagel», stellt er trocken fest. Und kommt zum Schluss: «Verbindende Dinge wie Theater sind gerade so wichtig wie nie.»   

Almost Human von der Karlsruher Theatergruppe Stupid Lovers

Text:

Sarah Hadorn

Mich interessiert, wie neue Technologien die Welt und unsere Gesellschaft verbessern können. Ganz ernsthaft. Dazu möchte ich Geschichten erzählen und Menschen mit Ideen und Konzepten treffen. Hauptinteressen: nachhaltige Entwicklung, alles mit Soziologie – wenn auch keine Soziologin. Ansonsten: französischer Käse, dicke amerikanische Romane, Katzen.

Fotografie: Samuel Schalch

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