Die digitale Kunst-Handwerkerin
Esther Hunziker macht digitale Kunst. Dabei erschafft sie Paralleluniversen. Mit Fantasy hat das nichts zu tun.
Das Wesen auf dem Bildschirm spricht mit dem ganzen Körper.
«I don’t have anybody to tell my feelings to.»Jedes Wort, das es von sich gibt, löst Bewegungen aus, die an menschliche Gesichtsregungen erinnern. «I’ve never done this before, I’ve never told anybody about my feelings.»Die Hülle der Kreatur erscheint elastisch wie Haut. «I just thought I’d come on here and get this shit off my chest, dude.»Gleichzeitig sehen Form und Textur alles andere als menschlich aus – eher wie Stein. Esther Hunziker nennt ihre digitalen Geschöpfe «Streamers». Für diese Arbeit hat sie Personen, die auf Youtube täglich ihr Innerstes offenbaren, eine neue Gestalt verliehen – sie in sprechende Steine verwandelt. «Oder Meteoriten, die als Fremdkörper auf die Welt prallen», so die Künstlerin.
Während ihrer Recherche sah sich Hunziker monatelang Beiträge von Youtubern an, die sich vor der Internet-Community inszenieren. «Ich wühlte mich durch die Nonstop-Gefühlsströme junger ‹Streamers›, die nichts anderes zum Thema haben als ihr ‹Selbst›», sagt sie. «Es ist ein Meer voller virtueller Exhibitionisten auf der Suche nach Selbstdarstellung und Selbstoptimierung.» Für ihre Arbeit habe sie vor allem der Zustand der Entfremdung und Vereinsamung interessiert: «Der Punkt, an dem das Ich im Netz verloren geht und die reale Welt immer artfremder erscheint.»
Fehler provozieren
Gesellschaftliche Phänomene wie die Youtuber beschäftigen Esther Hunziker. Ihre Mittel, um sie künstlerisch aufs Tapet zu bringen: die digitalen Medien. Fast untrennbar ist Hunziker denn auch mit ihrem Computer verbunden: «Ich liebe meine Maschine», erklärt die 51-Jährige, «Maschinen generell.» Erst über diese hat sie den Zugang zur Kunst gefunden, Malerei interessierte sie nie. Als man im Zeichenunterricht aber ausnahmsweise einmal fotografierte, war Hunzikers Interesse geweckt. Und der Fernseher – oder vielmehr MTV – stellte die Weichen endgültig: Mitte der 90er studierte die gebürtige Aargauerin in Basel Videokunst. Zunächst noch höchst analog; erst gegen Ende ihres Studiums hielt die Digitalisierung Einzug. «An die neue Ästhetik und Arbeitsweise musste ich mich erst gewöhnen», erinnert sich Hunziker. So konzentrierte sie sich vorerst auf ein neues Medium: das Internet. Hunziker: «Ich fand es interessant, die zeitliche Linearität, die Video vorgibt, aufzubrechen und mit multimedialen, interaktiven Möglichkeiten zu experimentieren.»
Die Experimentierfreude der Künstlerin sieht man ihren Arbeiten an: Hunziker erprobt laufend neue Techniken und Tools und treibt diese öfter an den Rand ihrer Möglichkeiten. «Dorthin, wo Fehler passieren und Unvorhergesehenes entsteht». Dabei gibt sie die Kontrolle gerne mal an die Maschine ab, lässt diese buchstäblich ihr Werk tun. Für ihre Arbeit «Streamers» baute Hunziker im 3D-Raum des Programms After-Effects Steine nach und versah diese mit der Textur realer Meteoriten. Durch ein Plug-In zur Visualisierung von Audioimpulsen konnte sie Eckdaten der 3D-Objekte mit der Audiospur synchronisieren, so dass die Sprache der Youtuber die Bewegungen der steinartigen Wesen auslöst.
Erinnerungsstücke aus vergangenen Zeiten in Esther Hunzikers Atelier
Abkehr vom Internet
Esther Hunziker ist eine Alles-Selbermacherin – eine Handwerkerin wie sie sagt. Im Handwerk liegen auch ihre Wurzeln: Ursprünglich lernte Hunziker Schneiderin und besuchte anschliessend die Modefachklasse. 1993 gründete sie zusammen mit einer Kollegin das Label «Erfolg», das es bis heute gibt. «Wir haben ein Manifest verfasst», erzählt Hunziker. Darin hielten die Designerinnen fest, nichts Neues zu produzieren und stattdessen altbewährte, bestehende Wäsche zu bedrucken. «Durchaus aus ethischen Überlegungen», so Hunziker. Aber noch aus einem anderen Grund: «Wir wollten, dass sich unsere Freunde unsere Mode leisten können.» Zugänglichkeit – etwas, das Hunziker auch bei ihrer Kunst wichtig ist. «Alle meine Videoarbeiten etwa lassen sich jederzeit online ansehen – 24/7. Das ist ein grosser Vorteil der nichtmateriellen digitalen Kunst.» Der materiellen Modebranche kehrte Hunziker schnell den Rücken.
Alle meine Videoarbeiten etwa lassen sich jederzeit online ansehen – 24/7. Das ist ein grosser Vorteil der nichtmateriellen digitalen Kunst.
Und gerade wendet sie sich von einem weiteren Spezialgebiet ab: «Ich habe die Schnauze voll vom Internet», nimmt die eigentlich zurückhaltende Künstlerin kein Blatt vor den Mund. «Es ist von einem unabhängigen, kreativen Ort zu einer riesigen Werbefläche und Datenkrake geworden, die von vier Tech-Giganten kontrolliert wird.» Dass einige Browser seit kurzem Audio nicht mehr automatisch abspielen, habe sie in ihrem Entscheid noch bestärkt. «Viele meiner Internet-Arbeiten funktionieren nicht mehr.» So wendet sich Hunziker wieder einem neuen Medium zu: Sie gründet einen digitalen Verlag. «Ich möchte multimediale Künstlereditionen als E-Books herausgeben», sagt sie. «Hier kann ich wieder ‹Krach› machen, wie ich will, ohne den User vorher um Erlaubnis fragen zu müssen.» Allerdings: «Ich will jetzt auch nicht die grumpy, old woman rauskehren», fügt Hunziker mit einem Augenzwinkern an. «Natürlich gibt es Positives am Internet.» So sei sie nach wie vor online und suche etwa auf Youtube praktische Lösungen für jedes erdenkliche Problem.
«Ich hasse Fantasy»
Was Hunziker mit den Youtubern verbindet: Auch sie betritt oft eine andere Welt. In ihrer Kunst erschafft sie ganze Paralleluniversen und lässt diese auf die Realität treffen; «oder auf das, was wir als Realität bezeichnen.» Sie beschäftigt sich mit Prozessen der Entfremdung, kreiert ausserirdische Wesen wie die «Streamers» oder organische, geschwürartige Kreaturen, die sich in ihrer neuen Videoinstallation «Projection» durch den Raum bewegen. Um Fantasy geht es der Künstlerin dabei keineswegs: «Ich hasse Fantasy», stellt sie sogar klar und lacht. Vielmehr interessiert sie das Fremdsein. Ein Gefühl, das sie selber mag – «aber nur in der Fremde.» Etwa dann, wenn sie im Rahmen eines Atelierstipendiums nach Berlin oder in die chinesische Metropole Chongqing zieht und sich in der Stadt verliert. «In der Fremde hebt sich das Gefühl des Fremdseins auf und wird zur Normalität.»
Bleibt Esther Hunziker zu lange in Basel, wird sie nervös. «Ich könnte überall eine Zeitlang leben», sagt sie, ganz Digital Nomad. Vor drei Jahren nahm sie sich allerdings eine arbeitsfreie Auszeit. «Ich hatte zwei Jahre in drei Jobs durchgearbeitet und musste die Notbremse ziehen.» Also fuhr sie nach Portugal – und tat sechs Monate lang gar nichts. Danach hängte sie ihren Drittjob als Screendesignerin an den Nagel. Heute ist sie nur noch Künstlerin und Dozentin für digitale Medien an der Fachhochschule Nordwestschweiz.
Digitaler Garten
Zum Ausgleich hat Esther Hunziker während des Lockdowns einen Garten auf ihrer Dachterrasse angelegt. Doch selbst wenn sie sich hoch über dem Basler Gotthelfquartier darum kümmert, geschieht das nicht ganz analog: «Ich habe verschiedene Samen gepflanzt, dann aber ein Durcheinander gekriegt», gesteht die Anfangsfünfzigerin. So habe sie sich eben eine App heruntergeladen, die die Setzlinge für sie identifiziert. Geliebte Maschinen.