Wie ein Künstler dem Eisen das Fliegen beibrachte
Der Schweizer Künstler Heiko Schütz schafft aus eisernen Buchstaben Skulpturen, darunter auch Eisenkugeln. Eine dieser Kugeln erhebt sich als Ballon regelmässig in die Lüfte. Besuch bei einem hintersinnigen Eisenwerker.
Heiko Schütz lacht rau. Verschmitztes Gesicht, knorrige Handwerkerhände auf dem schweren Holztisch in der Küche. «Ich hatte so viel Angst, dass ich mich im Keller versteckte», sagt er. Wir sitzen in der Küche eines stattlichen Bauernhauses in Niederönz, in dem der 69-Jährige mit seiner Frau wohnt. Wir wärmen uns auf. Wenige Minuten vorher standen wir noch in Schütz’ Skulpturengarten auf einem Feld hinter dem Haus, ein eisiger Winterwind pfiff durch die rostigen Eisenplastiken.
Der Garten ist ein Museum von Schütz’ 50-jährigem Schaffen: Fremdartig wirkende, an Picasso erinnernde Gesichter auf hohen eisernen Stelzen stehen neben Eisenknoten, die sich um sich selbst schlingen, daneben hellgrau lackierte, löchrige und verbogene Stahlträger, als hätte eine Bombe eingeschlagen, am Ende des Felds eine Platte voller übereinandergelegter Buchstaben, die je nach einfallendem Licht ein Gesicht erkennen lassen. «Ich arbeite intuitiv, thematisch», sagt er. Sobald er sich ausgelebt habe, wende er sich dem nächsten Thema zu.
Schütz’ Künstlerkarriere beginnt in der Umgebung seines Geburtsortes Kirchberg bei Bern. Er absolviert eine Lehre als Maschinenmechaniker, merkt aber schnell, dass ihn die Zehntelmillimeter-Arbeit mit Metallen nicht reizt. Viel lieber sammelt er Restmetalle und schweisst sie zu bildhaften Objekten zusammen. «Meine erste Plastik riss sich der Lehrmeister unter den Nagel und stellte sie in seinem Büro neben den Diplomarbeiten auf», sagt er grinsend. Schütz erweist sich als talentierter Schweisser und als er wenig später den Berner Eisenplastiker Bernhard Luginbühl kennenlernt, nimmt dieser ihn unter die Fittiche. Kurz darauf lernt Schütz auch Jean Tinguely kennen und führt für ihn ebenfalls ab und zu Schweissarbeiten aus. Er lernt eine Kunstwelt voller Happenings und Events kennen, mit Menschen, Inszenierungen, Feuer und Festen rund um die riesigen Eisenplastiken.
«Ich merkte auch, dass man von der Kunst leben kann und wusste, das ist mein Ding!», sagt er. Doch Luginbühl und Tinguely verdeutlichen ihm auch, dass er es nur schaffen wird, wenn er eine eigene Kunstsprache findet. «Sie haben mich geschliffen», sagt Schütz. Eines Tages hat er die zündende Idee: Er entwirft sein erstes Eisenbilderbuch - ein aufklappbares, eisernes Buch, in dessen Inneren sich eiserne Seiten mit Buchstaben und Formen umblättern lassen. «Jetzt bist du bereit», bestätigen ihn Luginbühl und Tinguely.
Nicht nur im Skulpturengarten, sondern überall auf dem Anwesen finden sich Eisenplastiken aus Schütz’ Schaffen – grosse ebenso wie kleine. Vor dem Eingang zu seiner Werkstätte steht eine Hommage an Jean Tinguely – ein Kugelspiel mit abstrakter Baskenmütze und einer Feder als Dekoration. «Die Skulptur stand eine Zeitlang am Flughafen Zürich», sagt Schütz. Im Atelier riecht es nach Eisen, auf den ersten Blick herrscht ein rostiges Chaos. Er arbeite stets an mehreren Stücken gleichzeitig: Schwere Steinträger mit verbogenen Eisenplatten, daraus soll schliesslich eine Bar mit Glaspatten entstehen. Eine spitz zulaufende, sechseckige Pyramide wird ein unsichtbares Feuer verbergen und in einem Hammam zu stehen kommen. Eisenbuchstaben in einer Flaschenpost formen das Wort «BLUBS».
Ich provoziere manchmal halt auch gerne.
Für ihn sei Kunst stets eine Gratwanderung gewesen, auch finanziell, sagt Schütz. Seine Werke stehen zwar auf zahlreichen Plätzen in der Schweiz und im Ausland – Einzelstücke sind bis auf fast alle Kontinente gereist –, daneben hat Schütz immer aber auch Auftragsarbeiten ausgeführt. «In Künstlerkreisen habe ich mich nie richtig wohl gefühlt», sagt er. Die Szene sei ihm, dem Eisenwerker, zu abgehoben. Einmal sei sogar eine Unterschriftensammlung gegen ihn zustande gekommen, organisiert von anderen Künstlern – weil er vom Kanton schon wieder eine Auftragsarbeit bekommen hatte. «Ich provoziere manchmal halt auch gerne», sagt er und grinst.
Eines Tages hat er die Idee, mit eisernen Buchstaben zu arbeiten. Mit diesen kann er nicht nur Eisenbücher und Flaschen füllen, sondern sie zu grossen Gebilden zusammenschweissen. Herstellen lässt er die Buchstaben zuerst versuchsweise bei Bystronic – der auf Blechbearbeitungen und Laserschneidmaschinen spezialisierte Konzern befindet sich nur wenige hundert Meter von Schütz’ Haus entfernt.
Als die Buchstaben-Menge wächst, wechselt er zu einem lokalen Metallverarbeitungsunternehmen (siehe Kasten). So entstehen zahlreiche neue thematische Skulpturen: Eine aus Buchstaben bestehendes Bild im Skulpturengarten enthüllt bei richtigem Lichteinfall ein Gesicht – das Werk entsteht zusammen mit dem Künstler Simon Berger, der bekannt dafür ist, Gesichter in zersprungenem Glas sichtbar zu machen. Eines von Schütz’ neusten Werken trägt den Namen «Pflugfabrik-Turm»: ein Gebilde mit fast mannhohen Buchstaben, das zwölf Meter in den Himmel ragt. Es soll sowohl an die bernische Industriegeschichte wie auch an Schütz’ Vater erinnern, der Pflüge konstruierte. Zeitgleich zum Turmbau, beginnt der Künstler Kugeln aus den Buchstaben zu schweissen.
Womit Schütz’ Angst ins Spiel kommt. Mit einem Abbild der grössten Eisenkugel namens «Wortlos» gestaltet der mit Schütz befreundete Künstler Andreas Althaus nämlich eine Ausstellungskarte: Sie zeigte die Eisenkugel als Ballon, der über die Alpen schwebt. Die Idee schlägt ein – auch beim Stiftungsratspräsidenten der Rentsch-Kulturstiftung. Dieser findet während der Ausstellung, diesen Ballon müsste es wirklich geben – die Illusion einer Eisenkugel, die über die Landschaften schwebt. Schütz lässt sich überzeugen und erinnert sich an einen Freund, der Ballonfahrer ist. Bevor dieser aber bereit ist, bei der Idee mitzuhelfen, will er Schütz auf eine Ballonfahrt mitnehmen. Eines Tages taucht er mit einem Ballon vor Schütz’ Anwesen auf – und der Künstler verkriecht sich, von der Idee des bevorstehenden Fluges überwältigt, irgendwo im Keller und ist nicht mehr aufzufinden. Bis Schütz die Angst überwindet und sich schliesslich doch auf die Jungfernfahrt wagt.
Es war ein unglaubliches Gefühl, die Eisenkugel als riesigen Ballon aufgeblasen zu sehen.
Damit beginnt auch das Projekt abzuheben. Der Heissluftballon soll ein fliegendes «Tromp l’Oeil» werden: Nicht nur die Buchstaben, sondern auch deren Rückseiten auf der Innenseite der Hülle sowie die Zwischenräume mit Blick in den Himmel sollen abgebildet sein – als würde eine echte, tonnenschwere Eisenkugel federleicht durch die Lüfte schweben. Um die Hülle bedrucken zu lassen, brauchen die Hersteller eine Vorlage. Schütz baut die Kugel noch einmal nach, dieses Mal aber aufgeklappt und flach. Vier Wochen arbeiten er und ein spezialisiertes Team an der Druckvorlage. Als sie steht, wird der Ballon gedruckt, genäht und schliesslich im Herstellungsort Spanien erstmals mit Heissluft gefüllt – das Eisen fliegt. «Es war ein unglaubliches Gefühl, die Eisenkugel als riesigen Ballon aufgeblasen zu sehen», sagt Schütz stolz. Seitdem ist er schon mehrere Male mit seinem Eisenbuchstaben-Ballon aufgestiegen. Die Angst ist mittlerweile verflogen.
Über das Projekt
Schütz lässt die Buchstaben von der Firma Michel Apparatebau AG in Herzogenbuchsee auf Bystronic-Maschinen laserschneiden. Schütz geht bei der Firma rege ein und aus, nur für die Auftragserteilung der Buchstaben muss er bei Michel Apparatebau nicht auftauchen: Als Schrift verwendet er ausschliesslich die Helvetica, für die Produktion gibt er der Metallwerkstätte lediglich die Dicke des Blechs sowie die Höhe und die Anzahl der Buchstaben an. «Die Os nutze ich als Verbindungsstücke, indem ich diese zersäge», sagt er.