Ernst jetzt? Gamend lernen
Spielen mit ernster Absicht: Serious Games helfen in der Medizin bei Therapien, erleichtern Kindern das Lernen, oder bringen Jugendlichen die Kunst näher.
Bettina Meier-Bickel steht in der Bahnhofshalle des Zürcher Hauptbahnhofs und schaut nach oben. Über ihr schwebt die fröhlich-farbige Skulptur von Niki de Saint Phalle, die im Volksmund meist als «Der Engel» bezeichnet wird, mit vollem Namen aber «L’ange protecteur» (Der Schutzengel) heisst. Sie senkt den Blick auf ihr Handy, tippt auf den Bildschirm und schaut wieder nach oben. Um sie herum eilen Menschen den Zügen zu, warten am Treffpunkt auf andere oder suchen den Weg zum nächsten Bus und Tram. Die Kunsthistorikerin steckt das Handy ein und strebt dem Hinterausgang des Bahnhofs zu, wo eine weitere Kunstinstallation zu sehen ist. Bettina Meier-Bickel testet ein Handygame, das sie und ihre Geschäftspartnerin Karin Frei Rappenecker inhaltlich konzipiert haben und das bald von Jugendlichen auf ihren Smartphones gespielt werden soll.
Das Spiel heisst “Artspotting” und gehört in die Kategorie der Serious Games. Die Hauptzielgruppe sind Schülerinnen und Schüler, das Spiel soll ihnen auf spielerische Weise die Welt der Kunst näherbringen. Offen steht es aber auch Kunstinteressierten aller Altersgruppen.
Das Spiel erkennt anhand der Lokalisierungsdaten des Mobiltelefons, wo sich die Spielenden befinden und welche Kunstwerke im Umfeld zu sehen sind. Hat man ein Kunstwerk gefunden, startet «Artspotting» mit einem Quiz, bei dem man Hintergrundinformationen zum jeweiligen Objekt erhält.
Dabei hilft die Spielfigur Panksy, eine Taube, die Kunstwerke zu entdecken. Finden die Spielenden ein Werk, erhält die Spielfigur Panksy Maiskörner als Belohnung. Zusätzlich können mit Versatzstücken der gefundenen Kunstwerke neue virtuelle Kunstwerke geschaffen werden, was die eigene Kreativität fördern soll. In einem ersten Schritt werden im Game nur Kunstarbeiten im Umfeld des Zürcher Hauptbahnhofs berücksichtigt. Entwickelt wird das Spiel vom Schweizer Gamestudio Koboldgames in Brugg.
«Serious» kommt gut an
Als Lernspiel ist «Artspotting» ein typischer Vertreter eines Serious Games – einer Software, die Spielmechaniken und Spielregeln nutzt, um eine ernste Absicht zu verfolgen. Diese Gamegattung hat sich in den letzten zehn Jahren zu einer der wichtigsten Einnahmequellen der Schweizer Gamebranche entwickelt. Denn an die grossen Geldtöpfe der Unterhaltungsgame-Industrie sind die meisten Schweizer Spielentwickler bisher noch nicht gekommen. Während Blockbuster-Games wie «Minecraft», «Fortnite» oder die Fussballgame-Reihe «Fifa» weltweit Milliarden Dollar einspielen, köchelt die schweizerische Gameentwicklerszene auf kleinem Feuer. Einzig das in Schlieren beheimatete Studio «Giants Software» hat mit dem «Landwirtschaftssimulator» einen internationalen Millionen-Seller geschaffen. Schweizer Studios mit weltumspannender Ausstrahlung lassen sich deshalb an einer Hand abzählen. Dies liegt nicht etwa am fehlenden Können (in Zürich befindet sich eine der renommiertesten Gamedesign-Schulen), sondern an den knappen finanziellen Mitteln: Mit dem kleinen Schweizer Markt lässt sich kaum Geld verdienen, auf der internationalen Bühne ist die Konkurrenz hingegen knüppelhart. Um dort zu bestehen, braucht es Selbstvertrauen, doch in der Schweiz geniessen Games gesellschaftlich immer noch einen zweifelhaften Ruf.
Nicht so die Serious Games. Sie haben sich zum Beispiel in der Medizin als äusserst nützliche Tools erwiesen – etwa in der Rehabilitation: Mühselige und repetitive Therapieübungen machen mehr Spass, wenn sie spielerisch absolviert werden. Eines der ersten Serious Games, das diesen Effekt nutzte, war “Gabarello”: Das vom Departement Game Design der ZHdK entwickelte Spiel motiviert gehbehinderte Patienten dazu, Gehübungen auf dem Laufroboter «Lokomat» zu absolvieren. Der «Lokomat» steuert dabei eine Spielfigur, die gehend eine fremde Welt mit immer neuen Überraschungen entdeckt. «Die Akzeptanz für Serious Games ist in den vergangenen zehn Jahren stark gewachsen», sagt Ralf Mauerhofer, Mitbegründer von Koboldgames.
Die Akzeptanz für Serious Games ist in den vergangenen zehn Jahren stark gewachsen
Nutzen für Wirtschaft und Forschung
Etabliert haben sich Serious Games auch im Lern- und Therapiebereich. «In der Schulpädagogie hat man den Nutzen der digitalen Lernspiele erkannt», sagt Mauerhofer. Die Erkenntnis: Wissen, das auf spielerische Weise vermittelt wird, prägt sich leichter ein. Die ist vor allem bei Kindern hilfreich: Das Lernspiel “Fresh Food Runner” klärt Schüler zum Beispiel über die Saisonalität von Früchten und Gemüse auf. Der Fokus liegt jedoch nicht alleine auf jungen Menschen: Von Koboldgames stammt auch das “uFin: The Challenge” – ein Serious Moral Game, das zusammen mit der Universität Zürich entstanden ist. Das Game soll das moralische Bewusstsein von Akteuren im Finanzparkett schärfen. Zahlreiche Serious Games haben mittlerweile die Seniorinnen und Senioren als Zielgruppe entdeckt und helfen zum Beispiel die Gedächtnisleistungen zu verbessern oder die Feinmotorik aufrechtzuerhalten. Das Spiel “Four Seasons” beispielsweise verbessert mit Hilfe einer drucksensiblen Platte die Gehstabilität älterer Menschen.
Nicht zuletzt hat die Forschung den Nutzen von Spielen erkannt: Bei Umfragen besteht oft die Gefahr, dass Teilnehmende ihre Antworten unbewusst an die Absichten der Forschenden anpassen. Anders, wenn die Antworten als Teil eines Spiels erfolgen: Menschen reagieren auf spielerische Fragestellungen intuitiver und unmittelbarer; die Antworten fallen ehrlicher aus.
Kunst im Smartphone
Wir befinden uns mittlerweile am Südausgang des Zürcher Hauptbahnhofs, der Europaallee. Hier zückt Meier-Bickel erneut ihr Handy, schaut auf die App und dann auf ein Kunstwerk, das viele täglich sehen, dessen Erschaffer wohl aber nur wenige kennen dürften: Die Leuchtskulptur «Denkmal für Hans Künzi» stammt vom Künstler Carsten Höller. Meier-Bickel tippt aufs Display. Darauf erscheinen Informationen zu Höllers Werk und zum ehemaligen Regierungsrat Hans Künzi, dem Vater der Zürcher S-Bahnen. Als Kunsthistorikerinnen hätten sie und ihre Partnerin sich überlegt, wie man bei 15- bis 18-Jährigen die Lust auf Kunst und Kultur weckt. Das Smartphone als nicht mehr wegzudenkendes Kommunikationstool der Jugendlichen musste Bestandteil der Erfahrung sein. Die Gameapp erleichtere den Jugendlichen den Einstieg in die physische Erfahrung der Kunst und wirke auf unterhaltsame Art als Motivator und Brückenbauer, sagt sie. Meier-Bickel: «Mit Games hatte ich eigentlich nichts am Hut».
Noch befindet sich das Spiel im Stadium eines sogenannten Minimal Viable Products – einer Software, die gerade mal so viel Funktionalität aufweist, dass man sie testen kann. Die Grafik ist noch rudimentär, die Finessen fehlen. Die Finanzierung gestalte sich vor allem seit der Corona-Pandemie als schwierig, sagt Meier-Bickel. «Viele Förderstellen im Bereich der Kunst sind zudem ratlos gegenüber Games», sagt sie.
Manchmal kommt die Enttäuschung
Die Finanzierung von Spielen ist auch für Koboldgames die grosse Knacknuss. «Unter 50'000 Franken bekommt man kein ernst zu nehmendes Serious Game», sagt Mauerhofer. Soll das Spiel eine 3D-Welt mit hochwertiger Grafik bieten, müssen mindestens 100'000 Franken in die Hand genommen werden. Das teuerste Game, an dem er je arbeitete und das über mehrere Jahre weiterentwickelt wurde, kostete eine halbe Million Schweizer Franken. Das ist immer noch ein Bruchteil der dreistelligen Millionenbeträge, die beispielsweise ein Spiel wie «Assassin’s Creed» verschlingt. Das Adventurgame zählt zu den wenigen Blockbuster-Games, in denen auch ein Stück Serious Game steckt. So bildete das erste «Assassin’s Creed» Figuren, Gebäude und die Kleidung zur Zeit der Kreuzzüge in Damaskus akribisch genau und geschichtlich weitgehend korrekt ab. Vor der Entstehung des Games waren die Gamedesigner tief in die Geschichtsbücher gestiegen und hatten sich mit den Begebenheiten der damaligen Zeit befasst. Mittlerweile läuft die «Assassin’s Creed»-Reihe über 15 Jahre und widmet jedes neue Game einer anderen historischen Ära. In der Schweiz fehlt indessen das Geld für solche Produktionen. «Das kann bei den Auftraggebern schon mal zu Enttäuschungen führen», sagt Mauerhofer. Besonders wenn für die mehreren zehntausend oder auch hunderttausend Franken die fotorealistische Grafik eines Multimillionen-Dollar-Spiels erwartet wird. «Eine Hochschule verfügt nun mal nicht über mehrere Millionen für ein Game», sagt der Gamedesigner.
Kenne deine Zielgruppe
Wir sind zurück im Zürcher Hauptbahnhof, Treffpunkt, rundherum wuselt die Stadt. Giorgio-Lilo Salvador und Mette Regenthal, beide 15 Jahre alt, schauen sich «Artspotting» an. Das Spielprinzip haben sie blitzschnell begriffen, nach wenigen Schritten stehen sie vor Niki de Saint-Phalles «Schutzengel» und beantworten die Quizfragen. «Mega einfach», sagt Giorgio-Lilo ins Spiel vertieft. Nachdem sie die Fragen korrekt beantwortet haben, führt sie der «Scanner» im Game zur Statue von Alfred Escher am Kopf der Bahnhofstrasse, liefert ein paar Infos, und führt sie danach zum Südausgang. «Ich finde es lässig, dass man am Handy draussen mit anderen spielen und die Fragen diskutieren kann», sagt Mette. Regelmässig drückt Giorgio-Lilo den «Scanner»-Button, um die Skulptur von Carsten Höller zu entdecken. «Ich mag am Spiel, dass man die Antworten im Quiz nicht einfach irgendwo abliest und im Game repetiert, sondern dass man auch selbst nachdenken muss», sagt er. Mette ergänzt, dass sie ein Serious Games vor allem dann spielen würde, wenn es ein spannendes Thema ausserhalb der Schule behandelt – «etwas, was man auch in der Freizeit gerne macht». Ein Spiel wie «Artspotting» würde sie beispielsweise ansprechen, wenn auch Graffiti-Kunst darin vorkäme. «Mich würde aber auch ein Spiel übers Essen oder Kochen ansprechen», sagt Giorgio-Lilo, der diesen Sommer eine Lehre als Koch beginnt.
Anders als beim Film oder bei Games zur reinen Unterhaltung, könne man mit solchen Spielen kein neues Publikum aufbauen
«Entwickler eines guten Serious Games kennen ihre Zielgruppe sehr genau», sagt Mauerhofer von Koboldgames. Das Publikum müsse auch schon sehr früh in den Entwicklungsprozess eingebunden sein. «Wenn die Zielgruppe nicht vorhanden ist, macht ein Serious Game keinen Sinn.» Anders als beim Film oder bei Games zur reinen Unterhaltung, könne man mit solchen Spielen kein neues Publikum aufbauen. Auch bei «Artspotting» war die Zielgruppe in einem frühen Stadium dabei: Das Spiel wurde schon in einem frühen Stadium von Schülerinnen und Schülern von Gymnasien und Berufsschulen getestet. Dabei zeigten sich grosse Unterschiede bei den Altersgruppen. «Mit 18 Jahren steht man an einem anderen Punkt im Leben als mit 15», sagt Meier-Bickel. Bei welcher Altersgruppe «Artspotting» am besten ankommt, sei deshalb noch nicht ganz klar. Lehrreich wird das Serious Game aber auf jeden Fall sein – für alle Beteiligten.
Koboldgames
Gegründet wurde das Schweizer Gamedesignstudio 2012 in Olten von fünf Studierenden des Studiengangs Game Design an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK). Gleich das erste Spiel – «Journey of a Roach» – weckte internationales Interesse und wurde vom deutschen Publisher Daedalic Entertainment veröffentlicht. Danach spezialisierte sich Koboldgames jedoch auf Spiele im Werbebereich und auf Serious Games. Ein Grossteil der Kunden stammt aus den Bereichen Learning, Schulung und Therapie. Das siebenköpfige Team hat die Büros mittlerweile nach Brugg verlegt.
Fotografie und Text: Jan Graber