Handprothese Open Source
Die Hand ist unser Multifunktionswerkzeug schlechthin. Entsprechend ausgefeilt muss eine Prothese sein, die sie ersetzen soll. Nicht unbedingt. Die Lösung eines Zürcher Start-ups zeigt: Es geht auch einfacher.
Begonnen hat alles mit einem kleinen Mädchen. Sophia ist ohne linke Hand zur Welt gekommen. Ihr Vater, der Zürcher Arzt Andreas Trojan, suchte auf dem Markt nach praktischen und günstigen Prothesen für seine Tochter – erfolglos. Nicht, dass es grundsätzlich an entsprechenden Produkten mangeln würde: Dank Hightech-Lösungen wachsen Mensch und Maschine immer mehr zusammen; Exoskelette, intelligente Implantate oder muskelgesteuerte Prothesen sorgen dafür, dass körperliche Einschränkungen wettgemacht, menschliche Fähigkeiten zum Teil sogar erweitert weiter.
Doch nicht immer sind diese komplexen Lösungen auch die sinnvollsten. Denn Hightech-Produkte sind teuer. Bei Kindern, die ihren Prothesen schnell entwachsen und beim Spielen vielleicht auch einmal etwas kaputt machen, fällt das besonders ins Gewicht. À propos Gewicht: Auch das schränkt beim Spielen eher ein.
Modularer Ansatz statt Hand-Kopie
Andreas Trojan gründete die Stiftung Appsocial, die sich gemeinsam mit der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften an die Entwicklung einer Kinderhandprothese machte. Mittlerweile ist aus der Zusammenarbeit das Start-up SwissProsthetics entstanden. Hier arbeiten Alex Antosch, Technischer Leiter, und sein Team. Ihr Ziel: Prothesen so einfach, leicht und kostengünstig wie möglich zu konstruieren – damit sie sich auch für Kinder in Entwicklungsländern eignen.
Alex Antosch erklärt, wie das geht: «Wir sind davon abgekommen, die menschliche Hand in ihrem ganzen Funktionsumfang nachbilden zu wollen.» Stattdessen entschied sich SwissProsthetics für einen modularen, fokussierten Ansatz. Alex Antosch:
Unsere Lösung besteht aus einem Schaft und verschiedenen Aufsätzen, die je auf eine spezifische Tätigkeit ausgelegt sind: Schwimmen, Velofahren, Klettern oder Skifahren zum Beispiel.
Keine elektronischen Komponenten
Dabei kommen die Aufsätze ohne elektronische Komponenten aus. Die Velohand zeigt das exemplarisch: Um den Zug auf die Bremse auszulösen, muss die Prothesenträgerin nur den Arm anheben – die Mechanik erledigt den Rest. Die Schwimmhand ist wie eine kleine Schaufel geformt, die Kletterhand wie ein Haken. Will ein User von einem Modell zum anderen wechseln, dauert das nur etwa 10 Sekunden. Der gewünschte Aufsatz muss lediglich aufgesteckt, der Befestigungsring gedreht und eingerastet werden. «Dass die Prothese leicht zu bedienen ist, ist für uns essentiell. Das garantiert, dass die Kinder sie auch gerne verwenden.» Um den Schaft am Unterarmstumpf zu befestigen, bedient die Prothesenträgerin einen Schnürmechanismus mit Drehknopf, der die Prothese festzurrt. Probandinnen und Probanden brauchen dafür nur rund 5 Sekunden.
Die Passform ist entscheidend
Am Schaft forscht das Start-up derzeit am intensivsten. «Aufsätze für verschiedene Aktivitäten zu entwickeln, ist vergleichsweise einfach. Komplexer, aber auch besonders wichtig für den späteren Tragekomfort, ist die Passform», sagt Alex Antosch. Hierfür verwendet SwissProsthetics einen parametrischen Ansatz: Der Unterarm des künftigen Users wird ausgemessen, die Daten werden dann in ein digitales Modell übertragen.
Fabriziert werden Schaft und Aufsätze schliesslich im 3D-Druck-Verfahren. Das hat unter anderem den Vorteil, dass die Prothese trotz individueller Abmessung automatisiert hergestellt werden kann und die Kosten im Rahmen bleiben. Das Endprodukt ist robust aber trotzdem leicht.
Die Userinnen und User sollen sich nicht zweimal überlegen müssen, ob sie ihre Prothese mitnehmen wollen, darum ist auch das Gewicht entscheidend.
Open-Source-Variante ab Anfang 2020
Derzeit wird bei SwissProsthetics an zwei verschiedenen Prothesen-Varianten gearbeitet. Neben einer regulären Version für den Schweizer Markt ist bereits für Anfang 2020 die Lancierung einer Open-Source-Variante für Entwicklungsländer geplant. Die Baupläne können kostenlos heruntergeladen, die Prothesen auf der ganzen Welt produziert werden.
Zusätzlich zu den Druckdaten besteht das Open-Source-Paket aus einem Schnittmuster für die Schaft-Polsterung und einer Bauanleitung. Alex Antosch erklärt: «Bei der Entwicklung achteten wir darauf, dass die Open-Source-Variante aus möglichst wenigen Einzelteilen besteht, damit der Zusammenbau einfach ist.» Und sie optimierten die Prothese auf Druckverfahren wie die Schmelzschichtung (Fused Deposition Modelling, kurz FDM), weil die Infrastruktur dafür weltweit am verbreitetsten ist.
Grösserer Impact bei Kindern
Ein etwas komplexeres Modell, das aber auf dem gleichen modularen Prinzip beruht, soll 2021 in der Schweiz und im deutschsprachigen Ausland auf den Markt kommen; bis 2023 will SwissProsthetics die Kinderhandprothesen auch in der EU und in den USA vertreiben. «Grundsätzlich kann das System auch für Erwachsene eingesetzt werden», sagt Alex Antosch. «Wir konzentrieren uns aber vorerst auf Kinder, weil die Versorgungslage in diesem Segment grundsätzlich schlechter ist und wir mit unserem Produkt einen grösseren Impact erzielen können.»
Die Geschichte hinter SwissProsthetics
Die Entwicklung der Kinderhandprothesen aus dem 3D-Drucker hat Zusammenarbeit der Stiftung Appsocial und der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften begonnen. Mittlerweile ist daraus das Startup SwissProsthetics entstanden, das am Wyss Zürich an der Marktreife der Prothesen arbeitet. Wyss Zürich ist ein von ETH und Universität Zürich getragener Business Accelerator, der junge Unternehmen dabei unterstützt, medizinische Technologien aus dem Bereich regenerativer Therapien und Robotik von der Forschung in den Alltag zu übertragen.
https://www.wysszurich.uzh.ch/projects/associate-projects/swissprosthetics
Text:
Fotografie: SwissProsthetics (zvg) / Bettina Bhend