Die Zahlenzauberin
Der erste Algorithmus ist ein Jahrhundert vor der Erfindung des Computers entstanden. Entwickelt hat ihn Ada Lovelace. Die britische Adelstochter nahm mit ihren visionären Ideen das digitale Zeitalter vorweg.
Sie lenken den Verkehr, erkennen Krankheiten im Frühstadium, helfen bei der Suche nach Informationen und empfehlen die passende Musik. Algorithmen sind die Heinzelmännchen der digitalisierten Welt: Sie lösen Probleme schneller als wir es je könnten und machen unseren Alltag ein gutes Stück bequemer.
Auch wenn bei der Wortschöpfung Algorithmus ein Mann Pate stand, der mittelalterliche Zahlengelehrte Al-Chwarizmi aus Bagdad, so war es eine Frau, die erstmals eine Handlungsanweisung zur Lösung eines komplexen mathematischen Problems zu Papier brachte. Ada Lovelace machte sich Gedanken über die Programmierung einer Maschine, die der erste Computer hätte werden können – wäre sie denn je zustande gekommen.
Zwei findige Geister finden sich
Im frühen 19. Jahrhundert entwickelte der britische Mathematiker, Philosoph und Erfinder Charles Babbage das Konzept für eine neuartige, mit Dampf betriebene Rechenmaschine: die Analytical Engine. Die Eingabe der Rechenbefehle sollte über Lochkarten erfolgen, eine Methode, die damals der Steuerung mechanischer Webstühle diente. Dies verlieh der Analytical Engine ein Potenzial, das weit über die Rechenmaschinen hinausreichte, die zu dieser Zeit gerade Marktreife erlangt hatten.
Augusta Ada King-Noel, Countess of Lovelace, erkannte dieses Potenzial. Mit 17 Jahren besuchte die Adelstochter zum ersten Mal den Salon von Charles Babagge in London. Er war von ihren Fähigkeiten beeindruckt und nannte sie die «Zahlenzauberin». Ihre Vorliebe für Zahlen kam nicht von ungefähr: Die einzige eheliche Tochter des Dichters Lord Byron genoss eine streng naturwissenschaftliche Ausbildung, mit Fokus auf Mathematik und Logik. Für eine junge Frau der damaligen Zeit war dies aussergewöhnlich, schliesslich sollte es noch Jahrzehnte dauern, bis Frauen an Hochschulen studieren durften. Adas Mutter spannte private Tutoren ein, denn sie wollte nach der Trennung von Byron um jeden Preis verhindern, dass ihre Tochter in die Fussstapfen des Vaters tritt. Poesie war im Hause Lovelace tabu.
Vordenkerin der künstlichen Intelligenz
Für Charles Babbage war die Analytical Engine in erster Linie eine Rechenmaschine, um Zahlentabellen zu berechnen. Ada Lovelace erkannte jedoch, dass die Erfindung zu weit mehr imstande sein könnte. Davon zeugt ihr umfangreicher Kommentar zu Babbages Plänen. Die 1843 veröffentlichten Notizen enthalten einen schriftlichen Plan zur Berechnung der Bernoulli-Zahlen in Diagrammform. Diese Handlungsanweisung für die Analytical Engine gilt es erstes formales Programm der Geschichte, sprich: als erster Algorithmus im modernen Sinne.
In ihren Notizen nahm Lovelace die Prinzipien der Computertechnologie vorweg, etwa die Unterscheidung zwischen Hard- und Software: Sie erläuterte, dass die Analytical Engine einen physischen Teil hat, nämlich die Kupferräder und Lochkarten, und einen symbolischen – die automatischen Berechnungen, die in den Lochkarten codiert sind. Die Notizen zeigen deutlich, dass ihr ein universell einsatzbarer Computer vorschwebte, der mehr als nur arithmetische Aufgaben bewältigen kann. Auch das Potenzial der künstlichen Intelligenz erkannte Lovelace als erste. Die kreativen Möglichkeiten der Technologie beschrieb sie am Beispiel der Musikkomposition wie folgt:
«Würde man beispielsweise die grundlegenden Beziehungen von Tönen gemäss den Regeln der Harmonie und der Komposition auf diese Weise beschreiben lassen, könnte die Maschine komplizierte, wissenschaftliche Musikstücke beliebiger Komplexität oder Länge komponieren.»
Ein visionärer Gedanke, wenn man bedenkt, dass damals die Eisenbahn erst gerade Fahrt aufnahm. Es sollte noch ein Jahrhundert dauern, bis andere Wissenschaftler das Potenzial der Computertechnologie erkannten. Alan Turing war einer von ihnen und für ihn war Ada Lovelace eine wichtige Inspirationsquelle. Der Entwickler des Turing-Tests setzte sich intensiv mit der Frage auseinander, ob Maschinen wie der Mensch zu eigener Erkenntnis befähigt sind. Lovelace glaubte dies im Gegensatz zu Turing nicht, und so nannte er die Gegenposition «Lady Lovelace’s Objection».
Würde man beispielsweise die grundlegenden Beziehungen von Tönen gemäss den Regeln der Harmonie und der Komposition auf diese Weise beschreiben lassen, könnte die Maschine komplizierte, wissenschaftliche Musikstücke beliebiger Komplexität oder Länge komponieren.
Von der Gehilfin zum Role Model
Ada Lovelace konnte ihre Visionen nie in die Tat umsetzen, denn die Analytical Engine blieb unvollendet. Einerseits fehlten die nötigen finanziellen Mittel, andererseits war die Feinmechanik zu wenig weit entwickelt, um gewisse Komponenten herzustellen. Doch ein Nachbau zeigte: Die Maschine funktioniert tatsächlich. Das Londoner Science Museum fertigte ein vollständiges Replikat an, mitsamt dem Drucker, den Charles Babbage vorsah. Die gesamte Konstruktion wiegt fünf Tonnen und besteht aus 8’000 Teilen.
Mittlerweile steht der Entwickler der Hardware im Schatten der Softwareentwicklerin. Die Coding-Community verehrt die Pionierin, nach der die Programmiersprache Ada benannt wurde, wie eine Schutzheilige. Mitte Oktober wird jeweils der Ada Lovelace Day ausgerufen und jedes Jahr geht in Berlin und Zürich das Ada Lovelace Festival über die Bühne, das Frauen aus der IT-Branche zusammenbringt. So ist die «Zahlenzauberin» zum Role Model für Informatikerinnen geworden.
Text:
Illustration: Ryan Sanchez