Der Stimme im Kopf ein Gesicht geben
Stimmen, die beleidigen, drangsalieren, kontrollieren: Daran leiden Patienten mit akustischen Halluzinationen. Eine neuartige Virtual-Reality-Therapie kann dabei helfen, die Stimmen besser zu kontrollieren. Bei der Entwicklung der Therapie sind Computerspiel-Technologien Pate gestanden.
Die Arme und Beine werden dünner, je weiter ich den Regler nach rechts bewege. Die Figur auf dem Bildschirm nimmt Gestalt an. Ich bestätige meine Wahl, klicke weiter und wähle aus: grüne Augen. Violette Haare. Langer Bart. Kurze Hosen, gestreiftes Shirt. Barfuss. Der Avatar ist kreiert. Ich setze die Virtual-Reality-Brille auf und stehe der eben erschaffenen Figur in einem unscheinbaren, aber freundlichen Raum gegenüber. Über die Kopfhörer höre ich ein sonores «Hallo». Ich spreche ein paar Anweisungen ins Mikrofon: Böse soll sie dreinschauen, die Figur. Sofort verschränkt sie die Arme vor dem Körper und zieht die Augenbrauen zusammen.
Für mich als Journalistin ist das eine Spielerei. Für die Patientinnen und Patienten des Zentrums für integrative Psychiatrie (ZIP) der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich hingegen steckt dahinter Hoffnung auf Heilung. Hier werden Menschen behandelt, die unter akustischen Halluzinationen leiden. Sie hören Stimmen, die sie beleidigen, drangsalieren, kontrollieren. Krankheiten wie Schizophrenie, Posttraumatische Belastungsstörungen oder Depressionen können solche Stimmen auslösen. Im Rahmen der sogenannten Avatar-Therapie geben die Patientinnen und Patienten den Stimmen in ihrem Kopf ein Gesicht. Das Ziel: mit der Stimme interagieren, selbstbewusster werden und die Kontrolle über sie erlangen.
Informationstechnologie erweitert die Möglichkeiten
Leiter des Projekts ist Oberarzt Stephan T. Egger. «Die Idee, akustische Halluzinationen zu visualisieren, ist nicht neu», erklärt er. «Neu sind nur die Mittel.» Früher nutzten Therapeutinnen beispielsweise einen Stuhl, auf dem sich die Patienten eine zur Stimme passende Figur vorstellen mussten. Die Therapeutin setzte sich dann aus dem Sichtfeld des Patienten und imitierte die Stimme. Später kamen Zeichnungen hinzu, welche die Patienten anhand ihrer Vorstellungen anfertigten; die Therapeutinnen hielten sich diese als Maske vors Gesicht und verkörperten so die Halluzinationen.
Die Möglichkeiten der Informationstechnologie erweitern nun diese Methoden, sagt Egger. «Vor vier Jahren las ich in einer Studie, dass Avatare bei der Behandlung von Schizophreniepatienten mit akustischen Halluzinationen eingesetzt wurden. Was die Forscher am Londoner King’s College taten, wollte ich auch versuchen.» In England kamen allerdings nur zweidimensionalen Figuren auf dem Bildschirm zum Einsatz. Egger und sein Team gehen einen Schritt weiter: Ihre Avatare sind dreidimensional und können – begleitet von einer geschulten Therapeutin – im virtuellen Raum besucht werden. Das ist weltweit einzigartig.
Therapie mit Stimmtransformator und VR-Brille
Die Therapie beginnt mit einem Vorgespräch, in dem der Patient schildert, was die Stimme im Kopf sagt, welche Wörter und wiederkehrenden Floskeln sie benutzt. Dann baut der Patient diese Stimme nach. Als Grundlage dient die Stimme seiner Therapeutin, die er mit einem Stimmmodulator nach seinen Vorstellungen verändert. Sie wird er im Laufe der Therapie hören. In einem nächsten Schritt gestaltet der Patient am Bildschirm mit Reglern und Auswahlmenüs den Avatar – die Figur also, die er mit der Stimme in seinem Kopf assoziiert. Anschliessend begibt sich die Therapeutin in ein anderes Zimmer, der Patient betritt mittels VR-Brille den virtuellen Raum. Die Therapeutin lässt den Avatar auf Knopfdruck erscheinen, steuert Gesicht und Mimik. Über Kopfhörer spricht sie mit dem Patienten und nutzt dafür die modulierte Stimme. Während zehn bis 15 Minuten unterhält sich der Patient nun mit seiner Halluzination. Anschliessend besprechen Therapeutin und Patient die Interaktion.
Die Avatar-Therapie spricht zusätzliche Sinnesebenen an und hinterlässt prägende Eindrücke. Diese können den Platz dessen einnehmen, was bisher im Kopf des Patienten existierte.
Stephan T. Egger erklärt den Nutzen: «Die Avatar-Therapie spricht zusätzliche Sinnesebenen an und hinterlässt prägende Eindrücke. Diese können den Platz dessen einnehmen, was bisher im Kopf des Patienten existierte. Etwa so wie die Bilder einer Literaturverfilmung unsere Vorstellungen überlagern, die wir bei der Buchlektüre hatten.» Die Interaktion im dreidimensionalen Raum wird von der Therapeutin so gesteuert, dass der Patient erkennt: Ich kann das Verhalten der Stimme in meinem Kopf ganz konkret beeinflussen. Diese Selbstwirksamkeitserfahrung steigert das Selbstbewusstsein und führt in vielen Fällen dazu, dass die Stimmen auch im Alltag wohlwollender werden, seltener auftreten oder sogar ganz verschwinden. Das legen die Resultate der Studie aus England nahe.
Sprachübertragung als grösste Herausforderung
Für die Technologie hinter der Therapie holte sich die Psychiatrische Universitätsklinik Zürich die Expertise des Game Technology Centers (GTC) der ETH ins Boot. «Wir erforschen, wie sich Computerspieltechnologien für andere Anwendungen einsetzen lassen», sagt Stéphane Magnenat, Stellvertretender Wissenschaftlicher Leiter am GTC. «Die Avatar-Therapie ist ein typisches Beispiel dafür». Denn dort kommen verschiedene Elemente zusammen, die Gamern bestens vertraut sind: die eigene Spielfigur gestalten, mit der VR-Brillen in die Spielwelt eintauchen und mit Mitspielern kommunizieren.
Das technische Setup der Avatar-Therapie besteht neben VR-Brille, Headsets und Stimmmodulator aus zwei Computern – einem für die Gestaltung des Avatars, einem für dessen Steuerung. Die jeweiligen Benutzeroberflächen hat Mischa Brander, Mitarbeiter des Game Technology Centers, selber entwickelt. «Patientenseitig bestand die Schwierigkeit darin, genügend Optionen für die Gestaltung des Avatars zur Verfügung zu stellen – aber nicht so viele, dass es die Nutzer überfordert», sagt Magnenat. Auch beim Design der Steuerungsmaske, die von der Therapeutin bedient wird, legten die Entwickler besonderen Wert auf Nutzerfreundlichkeit.
Die grösste technische Herausforderung bestand aber in der Kommunikation. Magnenat erklärt: «Der Datentransfer muss in Echtzeit erfolgen, so dass der Patient die modifizierte Stimme seiner Therapeutin, die sich ja in einem anderen Raum befindet, deutlich und ohne Verzögerung hört. Auch die Lippenbewegungen des Avatars sollten synchron sein.» Dabei wollten die Entwickler nicht auf externe Dienstleister oder Server grosser Tech-Unternehmen zurückgreifen. «Wir bewegen uns in einem heiklen medizinischen Kontext. Firmen wie Google kamen daher aus Datenschutzgründen nicht infrage», sagt Magnenat. «Also hat Mischa Brander ein eigenes Voice-over-IP-System entwickelt und in einem lokalen Netzwerk implementiert.»
Therapeutische Wirkung systematisch erforschen
Die ersten Usability-Tests haben bereits stattgefunden; die Entwickler sind zufrieden. In den kommenden Monaten arbeiten Stephan T. Egger und sein Team nun daran, auch die therapeutische Wirkung systematisch zu untersuchen. Im Zentrum steht das Selbstbewusstsein: Es ermächtigt die Patienten, der Stimme in ihrem Kopf Konter zu bieten, sie zu kontrollieren und in eine positive Richtung zu lenken. Darum fokussiert die Studie auf diesen Aspekt. Die Patienten werden in Gruppen eingeteilt und absolvieren sowohl ein klassisches Selbstbewusstseinstraining als auch die Avatar-Therapie. Gruppe 1 startet mit dem einen, Gruppe 2 mit dem anderen, dann wird gewechselt. Das soll zeigen, ob der Schlüssel für die Behandlung von akustischen Halluzinationen im Selbstbewusstsein an sich liegt, oder ob das Selbstbewusstsein, das in der Auseinandersetzung mit dem Avatar erworben wird, einen zusätzlichen Therapieeffekt bringt.
Stephan T. Egger und sein Team erwarten ähnlich gute Resultate wie bei der Vorgängerstudie aus England. Dies obwohl man mit einem wesentlich breiteren Patientenfeld arbeitet: Nicht nur Schizophrenieerkrankte sind als Probanden zugelassen, sondern alle Patienten, die an akustischen Halluzinationen leiden. Noch ist unklar, ob die Halluzinationen unabhängig von der zugrundeliegenden Krankheit gleich gut behandelbar sind. «Ich bin aber zuversichtlich», sagt Stephan T. Egger. «Denn unsere Avatar-Therapie spricht im Vergleich zu früheren Methoden dank VR und 3D noch mehr Wahrnehmungsebenen an. Das erhöht die Wirkung.»
Denn unsere Avatar-Therapie spricht im Vergleich zu früheren Methoden dank VR und 3D noch mehr Wahrnehmungsebenen an. Das erhöht die Wirkung.
Der Oberarzt macht sich bereits Gedanken über weitere Anwendungsfelder der Avatar-Therapie. Er denkt dabei an Phobien wie Höhenangst oder Angst vor Spinnen. Dort werde Virtual Reality bereits seit mehreren Jahren erfolgreich eingesetzt. «Ich kann mir auch vorstellen, dass traumatische Erfahrungen mittels VR aufgearbeitet werden. Etwa indem Situationen im virtuellen Raum nachgespielt und überwunden werden.» Auch für Personen mit sozialen Phobien könnten Avatare ein Hilfsmittel sein, Ängste abzubauen, Strategien zu entwickeln und Selbstbewusstsein aufzubauen. Egger: «Grundsätzlich haben wir alle unsere ‘Virtual Reality’ im Kopf – unsere Vorstellungswelt. Läuft darin etwas schief, kann die Virtual Reality Technik helfen, dies gemeinsam mit einer Therapeutin wieder herzurichten.»