Comeback mit Überschall
Zwei Jahrzehnte nach dem Ende der Concorde soll Überschall-Technik dank sparsamer Triebwerken und schlanker Fertigung wiederbelebt und konkurrenzfähig werden. In einem Hangar bei Denver entsteht gerade der schnellste Privatjet aller Zeiten.
„Ich hatte nie eine Chance, mit der Concorde zu fliegen“, erklärte mir Blake Scholl (39) bei unserer ersten Begegnung am Rand des Centennial-Flughafens bei Denver. Denn im Herbst 2003 – da war er noch ein Berufsanfänger bei Amazon – wurde der legendäre Überschall-Jets nach mehr als 30 Dienstjahren aus dem Verkehr gezogen. Die nächsten zehn Jahre hoffte Scholl vergeblich darauf, dass Boeing oder Airbus endlich ein Nachfolgemodell anbieten. Zehn Jahre, in denen der studierte Software-Ingenieur erst bei Amazon, später dann mit einigen Internet-Startups, genug Geld verdiente, um schließlich nicht länger auf andere warten zu müssen: Im September 2014 gründete er mit einem Startkapital von zwei Millionen Dollar in Denver die Startup-Firma Boom Supersonic und heuerte ein Dutzend Fachleute aus der Luft- und Raumfahrttechnik mit dem Ziel an, den schnellsten Passagierjet der Welt zu bauen. Overture soll er heißen und 55 bis 75 Passagiere mit maximal Mach 2,2 (was einer Reisegeschwindigkeit von 2335 km/h entspricht) in weniger als dreieinhalb Stunden von London nach New York bringen – und dabei so sparsam fliegen, dass sie für ihr Rückflugticket nicht mehr zahlen müssten als heute schon für einen Platz in der Business Class.
Denn letztlich war das Ende der Concorde-Ära keine Frage der Technik, sondern der Kosten: Bei einem Treibstoff-Verbrauch von 25.680 Litern pro Flugstunde verheizte die Concorde mit Mach 2 auf dem Flug über den Atlantik fast eine Tonne Sprit für jeden ihrer rund 100 Sitzplätze – doch im Schnitt waren etwa die Hälfte dieser Plätze leer. In ihren letzten drei Jahren flogen die insgesamt 14 Concorde-Maschinen oft sogar nur mit 20 Prozent Auslastung. „So leicht findet man halt keine 100 Leute, die nach heutiger Kaufkraft bis zu 20.000 Dollar für einen Flug hinblättern können“, meint Scholl. Overture hat nur etwa halb so viele Sitze und wird, dank moderner Triebwerkstechnik und Leichtbauweise, mindestens 30 Prozent weniger Treibstoff verbrauchen. Seine Rechnung sieht so aus: „Mit den 40 bis 70 Sitzen in First und Business-Class eines modernen Großraumflugzeugs machen Fluggesellschaften heute rund die Hälfte ihrer Umsätze und praktisch alle ihre Gewinne. Wir lagern quasi diese Plätze zum Preis eines Business-Tickets aus und fliegen sie dafür mit doppelter Schallgeschwindigkeit.“
Eine Business-Klasse für sich
Aus dem aktuellen Businessklasse-Aufkommen der großen Fluggesellschaften rechnet er sich über die ersten zehn Jahre ein Marktvolumen von rund 500 Overture-Jets aus – bei einem geplanten Einzelpreis von 200 Millionen wäre das ein 100-Milliarden-Geschäft. Seinen Investoren (darunter seit Mitte 2018 auch die Japan Airlines, die sich mit einer Einlage von zehn Millionen eine Option auf 20 Overture-Jets erworben hat) seien bei diesen Zahlen „die Augen übergegangen“; 150 Millionen Dollar hat er damit tatsächlich auftreiben können. Richard Branson hat für seine Virgin Group weitere zehn Boom-Jets vorbestellt; dieses erste Auftragsvolumen von 30 Jets wäre also schon mal sechs Milliarden Dollar wert. Daneben liefert Bransons Flugzeugwerft The Spaceship Company (eine Tochter seines Raumfahrt-Venture Virgin Galactic) Hilfe beim Design und Bau des ersten Boom-Prototypen, einem voll funktionsfähigen Test- und Demonstrationsmodell im Maßstab 1 zu 3. Auch diese verkleinerte Version wird eine Höchstgeschwindigkeit von Mach 2,2 erreichen.
Um die Entwicklungszeit, und vor allem auch den Genehmigungsprozess durch die Flugaufsichtsbehörde FAA (Federal Aviation Administration) zu verkürzen, setzt Boom auf Komponenten „von der Stange“. Scholl: „In unser Flugzeug wird nichts eingebaut, das nicht schon für andere Flugzeuge getestet und genehmigt wurde: Die Verbundwerkstoffe, die Flugsteuerung, die Triebwerke – alles ist schon jetzt im Einsatz und betriebssicher.“ In zwei, höchstens drei Jahren sollte der „Baby Boom“ start- und flugbereit sein – daraus sind inzwischen mehr als sechs Jahre geworden. Überschalltechnik braucht halt ihre Zeit – und mehr Expertise, als der im Flugzeugbau unerfahrene Scholl anfangs gedacht hatte. 140 Mitarbeiter montieren inzwischen fast rund um die Uhr, um den XB-1 bis zum Sommer 2020 soweit fertig zu haben, dass er für erste Testflüge über der Mojave-Wüste in Nevada abheben kann – mit 40, höchstens 60 Leuten wollte Scholl dies ursprünglich schaffen.
Offiziell als XB-1 und intern liebevoll als „Baby Boom“ bezeichnet, soll dieser erste privat entwickelte Überschalljet seit der Concorde beweisen, dass das Startup in Denver nicht nur das nötige Knowhow besitzt, um Überschall-Flugzeuge zu entwickeln, sondern sie auch schneller bauen kann als Airbus, Lockheed oder Boeing.
Drei Tage vor Weihnachten 2019 nahm der XB-1 endlich Formen an: das Cockpit und das Bug-Fahrwerk wurden in die vordere Rumpf-Hälfte aus Kohlefaser-Verbundstoffen integriert, die Bransons Werft geliefert hatte – um den dafür notwendigen Kleber maximal auszuhärten, musste im Boom-Hangar eine 15 Meter lange und drei Meter hohe „Backhaube“ installiert werden, die von der Decke abgesenkt werden kann. Die Deltaflügel haben eine Spannweite von 6,40 Metern und sind als separates Bauteil aus Kohlefaser und Titan konstruiert und mit einer hitzebeständigen Haut bezogen. Der hintere Teil des Rumpfes, der aus Titan besteht, um das Gewicht der drei Triebwerke (zusammen etwa eine Tonne) und vor allem die dabei entstehende Wärme bis zu 430o Celsius auszuhalten, fehlt derzeit noch.
Gallerie der XB 1
Delikate Montage: Der Einbau der Cockpit-Struktur in den Kohlefaser-Rumpf dauerte 20 Stunden und erforderte das Fingerspitzengefühl des gesamten Boom-Teams
Suche nach den passenden Triebwerken
Die Triebwerke sind bisher das einzige, das am XB-1 schon voll einsatzfähig sind: Der Test-Jet wird von drei J85-15-Aggregaten angetrieben, die eine Gesamtschubleistung von 54,71 Kilonewton erreichen – das ist etwa ein Drittel der Schubleistung der Concorde und entspricht, bei voller Leistung im Flugbetrieb, etwa 46‘000 PS. Das Turbojet-Strahltriebwerk ist eigentlich ein Oldtimer: Es wurde von General Electric in den 50-er Jahren entwickelt, primär für Militärmaschinen. Das J85-Aggregat wird zwar seit 1988 nicht mehr hergestellt, aber von den Triebwerken sind noch mehr als 6000 im Einsatz (und GE garantiert die Wartung und Ersatzteilversorgung bis zum Jahr 2040); gut gewartete Triebwerke “aus zweiter Hand” sind keineswegs schlechter als fabrikneue Flugzeugmotoren. Interessanter Weise ist das J85-Aggregat eigentlich als Unterschall-Antrieb ausgelegt, doch dank einiger Modifikationen – zum Beispiel einem verkleinerten Einlauf-Fan und einer entsprechend dimensionierten Schubdüse – lässt es sich auf Überschall-Geschwindigkeit „tunen”. Nachbrenner sorgen beim XB-1 für den notwendigen Zusatz-Schub.
Nachbrenner machen aber auch Lärm; die Overture soll daher ohne diese Schubverstärker auskommen. Nicht nur, um den Komfort der Passagiere zu erhöhen, sondern vor allem auch, um die Lärmpegel-Vorschriften internationaler Flughäfen einzuhalten. Die Messlatte dafür sei, so Scholl, eine Nachtlandegenehmigung auf dem Londoner Flughafen Heathrow, der „lärmempfindlichsten Gemeinde der Welt“. Der Haken ist, dass auch nach vierjähriger Suche bisher kein Lieferant für diese Triebwerke gefunden werden konnte. Was der Luftfahrt-Experte Richard Aboulafia, einer der wichtigsten Analysten der Branche, für bedenklich hält: eigentlich baue man ein Flugzeug um die Triebwerke herum, nicht umgekehrt.
Wird Überschall für jeden erschwinglich?
Ob der Zeitplan, Overture „in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts“ (Scholl) auszuliefern, realistisch ist, bleibt abzuwarten. Und die Zeit drängt: Boeing ist vor etwa einem Jahr als neuer Partner (nach Airbus und Lockheed, die beide inzwischen „ausgebootet“ wurden) bei der Flugzeugdesign-Firma Aerion in Reno (Nevada) eingestiegen; mehr als 100 Millionen Dollar soll Boeing nach unbestätigten Branchengerüchten investiert haben, um dem geplanten Überschallflieger AS 2 neuen Auftrieb zu geben. Dieser Businessjet wird mit etwa 12 Passagieren zwar deutlich kleiner und mit Mach 1,5 auch deutlich langsamer sein als Overture, zielt aber auf einen vergleichbaren Markt, mit einer geplanten Stückzahl von 400 innerhalb der nächsten 20 Jahre. Falls ihm das Sorgen macht, gibt Scholl dies nicht zu: „Lasst sie ruhig kommen“, erklärte er mir, als ich ihn bei einem späteren Besuch fragte was er von der Konkurrenz hält. Vom wieder erwachten Interesse am Überschallgeschäft verspricht er sich eine Belebung des zu erwartenden Geschäfts. Mehr Auswahl belebe die Nachfrage, mehr Nachfrage verlange noch effizientere Technologie, vor allem bei Triebwerken und Aerodynamik: „In ein paar Technik-Generationen kann es sein, dass Überschall-Fliegen enorm billig wird“ – billiger als heute das Fliegen mit Unterschall: „Für 500 Dollar in ein paar Stunden überall hin auf der Welt – da sehe ich unser langfristiges Ziel. Und das ist keine Science-Fiction.“
Text: Jürgen Schönstein
Fotografie: Boom Technology
Illustration: Ryan Sanchez